Wahrer Glaube ist nicht Gefühl, sondern Wille

Ein Text von A. W. Tozer, aus dem Englischen übertragen 1

Eine der verwirrenden Fragen, die sich dem suchenden Christen früher oder später stellen, ist die, wie er das biblische Gebot, Gott von ganzem Herzen und seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, erfüllen kann.

Der ernsthafte Christ, der über seine heilige Verpflichtung, Gott und die Menschen zu lieben, nachdenkt, wird vielleicht ein Gefühl der Frustration empfinden, das sich aus der Erkenntnis speist, dass er sich einfach nicht für seinen Herrn oder seine Brüder begeistern kann. Er möchte es, aber er kann es nicht. Die wunderbaren Gefühle wollen einfach nicht fliessen.

Viele aufrichtige Menschen sind durch das Fehlen religiöser Gefühle entmutigt worden und haben daraus geschlossen, dass sie doch nicht wirklich Christen sind. Sie kommen zu dem Schluss, dass sie irgendwo da hinten den Weg verfehlt haben müssen und ihr Glaube kaum mehr als ein leeres Bekenntnis ist. So machen sie sich eine Zeit lang Vorwürfe wegen ihrer Kälte und verfallen schliesslich in einen Zustand dumpfer Entmutigung und wissen kaum, was sie denken sollen. Sie glauben zwar an Gott und vertrauen Christus als ihrem Erlöser, aber die Liebe, die sie zu spüren hofften, bleibt ihnen versagt. Worin besteht das Problem?

Es handelt sich nicht um ein leichtes Problem. Es handelt sich um eine echte Schwierigkeit, die in Form einer Frage formuliert werden kann: Wie kann ich durch ein Gebot lieben? Von allen Gefühlen, zu denen die Seele fähig ist, ist die Liebe bei weitem das freieste, das unvernünftigste, dasjenige, das am wenigsten auf den Ruf der Pflicht oder der Verpflichtung hin auftaucht, und sicherlich dasjenige, das nicht auf Befehl eines anderen kommt. Es wurde nie ein Gesetz erlassen, das ein moralisches Wesen dazu zwingen kann, ein anderes zu lieben, denn die Liebe muss ihrem Wesen nach freiwillig sein. Niemand kann dazu gezwungen oder eingeschüchtert werden, jemanden zu lieben. Liebe entsteht einfach nicht auf diese Weise. Was sollen wir also mit dem Gebot unseres Herrn, Gott und unseren Nächsten zu lieben, anfangen?

Um aus dem Schatten in das heitere Sonnenlicht zu gelangen, müssen wir nur wissen, dass es zwei Arten von Liebe gibt: die Liebe des Gefühls und die Liebe des Wollens. Die eine liegt in den Gefühlen, die andere im Willen. Über die eine haben wir vielleicht wenig Kontrolle. Sie kommt und geht, steigt und fällt, flammt auf und verschwindet, wie es ihr beliebt, und wechselt von heiss zu warm zu kühl und wieder zu warm, ganz so wie das Wetter. Eine solche Liebe hatte Christus nicht im Sinn, als er sein Volk aufforderte, Gott und einander zu lieben. Genauso gut könnten wir einem Schmetterling befehlen, sich auf unsere Schulter zu setzen, als dass wir versuchen würden, diese launische Art von Zuneigung in unsere Herzen zu befehlen.

Die Liebe, die die Bibel vorschreibt, ist nicht die Liebe des Gefühls; sie ist die Liebe des Wollens, die willentliche Absicht des Herzens. (Diese beiden glücklichen Sätze verdanke ich einem anderen, einem Meister des inneren Lebens, dessen Feder erst vor kurzem durch den Tod zum Schweigen gebracht wurde.)

Gott hat nie beabsichtigt, dass ein Wesen wie der Mensch ein Spielball seiner Gefühle sein sollte. Das Gefühlsleben ist ein richtiger und edler Teil der Gesamtpersönlichkeit, aber es ist von Natur aus von untergeordneter Bedeutung. Der Glauben liegt im Willen, ebenso wie die Rechtschaffenheit. Das einzige Gute, das Gott anerkennt, ist ein gewolltes Gutes; die einzig gültige Heiligkeit ist eine gewollte Heiligkeit.

Es sollte ein ermutigender Gedanke sein, dass jeder Mensch vor Gott das ist, was er zu sein wünscht. Die erste Voraussetzung für die Bekehrung ist ein korrigierter Wille. „Wenn jemand will“, sagt unser Herr und belässt es dabei. Um die Anforderungen der Liebe zu Gott zu erfüllen, braucht die Seele nur den Willen zu lieben, und das Wunder beginnt zu blühen wie die Knospe von Aarons Stab.

Der Wille ist der Autopilot, der die Seele auf Kurs hält. „Fliegen ist leicht“, sagte ein Freund, der sein eigenes Flugzeug fliegt. „Nimm es einfach hoch, richte es in die Richtung, in die du es haben willst, und stelle den Autopiloten ein. Danach fliegt es von selbst.“ Auch wenn wir das Bild nicht zu weit treiben dürfen, so ist es doch glücklicherweise wahr, dass der Wille und nicht die Gefühle die moralische Richtung bestimmen.

Die Wurzel allen Übels in der menschlichen Natur ist die Verdorbenheit des Willens. Die Gedanken und Absichten des Herzens sind falsch, und als Folge davon ist das ganze Leben falsch. Reue ist in erster Linie eine Änderung der sittlichen Absicht, eine plötzliche und oft gewaltsame Umkehr der Richtung der Seele. Der verlorene Sohn machte seinen ersten Schritt aus dem Schweinestall nach oben, als er sagte: „Ich will aufstehen und zu meinem Vater gehen.“ So wie er einst gewollt hatte, das Haus seines Vaters zu verlassen, so wollte er nun zurückkehren. Sein anschliessendes Handeln bewies, dass sein geäusserter Wille aufrichtig war. Er kehrte zurück.

Jemand könnte aus dem oben Gesagten schliessen, dass wir die Freude am Herrn als einen wichtigen Teil des christlichen Lebens ausschliessen. Obwohl niemand, der diese Kolumnen regelmässig liest, wahrscheinlich eine solche falsche Schlussfolgerung ziehen würde, könnte ein zufälliger Leser in die Irre geführt werden; daher ist ein weiteres Wort der Erklärung angebracht:

Um Gott von ganzem Herzen zu lieben, müssen wir zunächst den Willen haben, dies zu tun. Wir sollten unseren Mangel an Liebe bereuen und uns entschliessen, von diesem Augenblick an Gott zum Gegenstand unserer Hingabe zu machen. Wir sollten unsere Zuneigung auf die höheren Dinge richten und unser Herz auf Christus und die himmlischen Dinge ausrichten. Wir sollten jeden Tag mit Hingabe die Heilige Schrift lesen und sie im Gebet befolgen, immer mit dem festen Willen, Gott von ganzem Herzen zu lieben und unseren Nächsten wie uns selbst.

Wenn wir diese Dinge tun, können wir sicher sein, dass wir eine wunderbare Veränderung in unserem ganzen inneren Leben erleben werden. Wir werden bald zu unserer grossen Freude feststellen, dass unsere Gefühle weniger sprunghaft werden und beginnen, sich in die Richtung der „willentlichen Absicht des Herzens“ zu bewegen. Unsere Gefühle werden diszipliniert und gelenkt werden. Wir werden anfangen, die „durchdringende Süsse“ der Liebe Christi zu schmecken. Unsere geistliche Zuneigung wird beginnen, gleichmässig auf festen Schwingen aufzusteigen, anstatt untätig und ohne Zweck oder intelligente Richtung umherzufliegen. Das ganze Leben wird wie ein zartes Instrument gestimmt werden, um das Lob dessen zu singen, der uns geliebt und uns in seinem eigenen Blut von unseren Sünden reingewaschen hat.

Aber zuallererst müssen wir wollen, denn der Wille ist der Herr des Herzens.

  1. Original auf Englisch: https://www.worldinvisible.com/library/tozer/5j00.0010/5j00.0010.08.htm ↩︎

In